Schwingstab – Könner oder Blender? Und ein Wort zu: Tiefenmuskulatur, Rehabilitation und Koordination
Fitnessstudio, Krankengymnastik, Physiotherapie. Man kennt ihn: diesen dubiosen langen Gummi-/Kunststoffstab mit einem Griff in der Mitte, den man irgendwie zum Wackeln bringen kann. Den Schwingstab. Selbst wenn man nicht so recht weiß, wie dieses Gerät genau funktioniert und was man damit überhaupt machen soll, meint man doch er habe einen tollen Nutzen und schafft Dinge, die andere Fitnessgeräte wie Hanteln, Kabelzüge usw. nicht schaffen. Zumindest weiß man das vom Hören-Sagen. Was aber genau ist dran, an der Wunderwaffe?
Besucht man Kurse, in denen dieses Gerät oftmals verwendet wird oder fragt man diverse “Trainer”, was es denn nun bringen soll, so bekommt man größtenteils folgende Dinge zu hören:
- “Der Stab trainiert die Tiefenmuskulatur. Diese ist sehr wichtig für die Stabilität.”
- “Mit diesem Gerät trainiert man den ganzen Körper, v.a. die Rumpfmuskulatur, da durch die erzeugten Schwingungen alle Muskelpartien arbeiten müssen.”
- “Der Schwingstab hilft bei Verletzungen, die betroffene Struktur wiederherzustellen, ohne diese durch Gewichte zu belasten. Zudem trainiert er die Koordination.”
Sind die Aussagen über den Schwingstab gerechtfertigt oder wird das Gerät und das Marketing einfach nicht hinterfragt?
Erste Aussage: “Der Stab trainiert die Tiefenmuskulatur. Diese ist sehr wichtig für die Stabilität.”
Nun, die Tiefenmuskulatur ist unglaublich wichtig. Sie ist so wichtig, weil nur durch sie Gelenke stabil gehalten werden können. Auch die Wirbelsäule kann nur durch die kleinen, nicht willkürlich ansteuerbaren und einzig und allein durch diesen Stab trainierbaren “Tiefenmuskeln” stabil gemacht werden.
Weit gefehlt!
Zumal die Gelenke (z.B. das Knie- oder Schultergelenk) in erster Linie durch große und starke “hochliegende” Muskeln stabilisiert werden (der Quadrizeps bspw. ist der Hauptstabilisator des Kniegelenks, der Delta-Muskel ist wichtig für die Stabilität der Schulter). Wenn diese nicht stark genug sind und gezielt trainiert werden, hilft es nicht, wenn die kleine und im Vergleich dazu schwache Tiefenmuskulatur durch ein bisschen Wackeln beansprucht wird.
Stellen Sie es sich so vor: wenn man eine Brücke bauen bzw. stabil halten möchte, brauchen Sie in erster Linie große und starke Stahlträger, die das ganze Konstrukt erst mal tragen und halten. Es macht hier keinen Sinn, diese zu vernachlässigen und stattdessen an kleinen Schrauben tief im Inneren der Brücke herumzudrehen und diese festzustellen. Diese haben zwar auch ihre Aufgabe bezüglich der Stabilität der Brücke – wie die Tiefenmuskulatur beim Menschen auch – nur sind die Prioritäten hier ganz klar verteilt. Ohne Stahlträger helfen die kleinen Schrauben nichts.
Zweite Aussage: “Der Schwingstab trainiert den ganzen Körper!”
Klar, wenn Sie etwas in der Hand halten, das durch Bewegung von Ihnen zum Schwingen gebracht wird, spüren Sie das Wackeln am ganzen Körper (zumindest bei vorhandener Körperspannung). Aber was heißt das nun? Wird der ganze Körper dann auch “trainiert”? Naja, er wird trainiert das Wackeln auszuhalten… Aber bitte glauben Sie nicht, dass all Ihre Muskeln am Körper trainiert werden, im Sinne von Kraftzuwachs, Muskelzuwachs, Verbesserte Stabilität, Figurverbesserung etc..
Dinge wie “ich spüre das im ganzen Körper” und “ich hatte Muskelkater danach” bspw. sind absolut KEINE Indizien dafür, dass es eine Form effektiven Trainings ist! Nicht für wirkliche Stabilität und schon dreimal nicht für die Figur!
Zum Thema Rumpfmuskulatur schauen Sie sich einfach mal Menschen und Athleten an, die insbesondere eine solche brauchen und auch vorweisen können. Keiner von ihnen hat dies durch einen wackelnden Gummistab erreicht!
Aussage Nummer 3: “Der Schwingstab hilft bei Verletzungen, die betroffene Struktur wiederherzustellen, ohne diese durch Gewichte zu belasten. Zudem trainiert er die Koordination.”
Bei einer verletzten Struktur muss man überwiegend gezielt und KONTROLLIERT herangehen. Dynamische Bewegungen (wohl dosiert) über die einzelnen Gelenkwinkel hinaus sind wichtig und fördern den Heilungsprozess – abgesehen von einer späteren GEZIELTEN Kräftigung (dies nur zur groben Beschreibung – Differenzierungen sind natürlich bei verschiedenen Verletzungen selbstverständlich). Die Vorgaben für Übungen mit dem Stab sind meist isometrisch, also statisch. Man solle “stabil” gegen das Wackeln angehen. Statisch ist aber nicht dynamisch und nicht dynamisch ist nicht förderlich bei Verletzungen (es sei denn man liegt im Krankenhaus und kann sich nicht bewegen). Zudem ist ja die Aussage über das Training mit dem Stab, dass die Tiefenmuskulatur gekräftigt wird. Diese ist jedoch nicht kontrolliert willkürlich ansteuerbar, daher ist das schon ein Widerspruch in sich, wenn man kontrolliert und gezielt arbeiten soll.
Fachleute wissen ausserdem, dass das “Belasten” der Gelenke durch (richtig dosiertes) Gewicht alles andere als schädlich ist. Nein, es ist sogar NOTWENDIG, will man die Gelenke gesund machen oder erhalten. Ein Gelenk und dessen Strukturen leben von gezielten Druck-Wechselbelastungen. Nicht nur Entlasten heißt die Devise, sondern vor allem auch gezielt Belasten! Man muss nur wissen wie… aber offenbar wissen das heutzutage die wenigsten.
Und was die Koordination betrifft:
Nehmen Sie eine beliebige freie Krafttrainingsübung (mit bspw. einer Langhantel) und versuchen diese biomechanisch korrekt auszuführen. Anfangs werden Sie – vorausgesetzt Sie haben diese noch nie gemacht – Probleme haben, diese richtig umzusetzen. Es fehlt Ihnen vor allem die Koordination für den richtigen Bewegungsablauf. Wenn sich Ihnen nun ein kompetenter Personal-Trainer annimmt, Sie korrekt anleitet und mit Ihnen trainiert, werden Sie schnell sehen, dass die Übung korrekt ausführbar ist. Hätten Sie dies geschafft, wenn Sie mit einem Schwingstab trainiert hätten? Sie können es sich denken – nein.
Koordination ist in solchen Fällen also übungsspezifisch. Sie können nicht einfach mit einem Wackelstab hantieren und erwarten, dass sich Ihre Koordination verbessert.
Was genau ist gemeint mit Koordination? In Bezug auf eine bestimmte Übung bzw. Bewegung? Statisch? Dynamisch? Hilfreich ist hier kein Gerät, sondern in erster Linie ein kompetenter Trainer, der Ihnen überhaupt zeigt, was Sie tun sollen. Das entsprechende Gerät wird dann hierfür ausgewählt – aber ein solcher Stab wird bei wirklichen Fachleuten erst einmal weit entfernt sein…
Fazit
Das einzige, was der Stab mit Stabilität gemeinsam hat, ist das Vorkommen im Wort “Stabilität”. Wollen Sie wirkliche Stabilität erreichen, dann tun Sie das mit freien, dynamischen Bewegungen mit ausreichend hohen äußeren Widerständen (= Gewichten) – aber bitte unter fachgerechter, korrekter Anleitung.
Der Begriff “Tiefenmuskulatur” ist leider schon einige Zeit im Umlauf und in aller Munde. Will man besonders, “fachmännisch” und “professionell” klingen, spricht man vom Training für die Tiefenmuskulatur. Die wenigsten wissen, was überhaupt damit gemeint ist und wofür sie gut ist.
Abgesehen davon, dass viele den Stab einfach nur irgendwie zum Wackeln bringen, die zur Ausführung notwendige Körperbeherrschung und Stabilität (aha, DAFÜR NOTWENDIG!) aber meist nicht haben, wird selbst bei korrekter Ausführung zwar die Muskulatur “beansprucht”, aber bei weitem nicht zu dem Status gebracht, den sie eigentlich dadurch bekommen soll.
Wenn Sie einen Schokoriegel essen und währenddessen auf einem Bein auf den Zehenspitzen stehen, brennt auch irgendwann nach einiger Zeit die Wade und Sie wackeln. D.h. aber noch lange nicht, dass der Schokoriegel die Koordination und die Wade trainiert.
Falls dies so wäre, sollte man einen Schokoriegel als Fitnessgerät verkaufen und ihn in Kursen anbieten. Wobei das bestimmt mehr positive Effekte hätte, als ein Schwingstab…